[de] AUF AUGENHÖHE Gegen den identitären Autoritarismus [traduzione in tedesco di “Da pari a pari”]
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PDF: Auf Augenhöhe. Gegen den identitären Autoritarismus
AUF AUGENHÖHE
Gegen den identitären Autoritarismus
Wir sind einige anarchistische Gefährten und Gefährtinnen, die an der Versammlung „Sabotiamo la guerra“ teilgenommen haben. Mit diesem Schreiben wollen wir uns zu einem schlimmen Vorfall äußern, der auf unserer Versammlung passiert ist (wenn auch nicht der einzige dieser Art, so war er doch der schwerwiegendste), aber vor allem zu einer Forma mentis und einer Ideologie, die solche Vorkommnisse systematisch begünstigen. Wir präsentieren uns nicht aus freien Stücken auf diese eingeschränkte Weise, sondern weil „Sabotiamo la guerra“ eine Versammlung ist, die von Zeit zu Zeit von den Teilnehmenden gestaltet wird. Wir können nicht im Namen aller zahlreichen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Teilnehmenden, sprechen. Fangen wir nun an, uns zu erklären.
Vom 11. bis 13. Oktober 2024 sollte in der Villa Occupata in Mailand die von unserer Versammlung organisierte dreitägige Diskussion Sfidare la vertigine [Den Vertigo herausfordern] stattfinden. Sie war eben einigen der schwindelerregenden, aber unausweichlichen Fragen gewidmet, die die Gegenwart aufwirft (angefangen bei denen, die mit dem Krieg zusammenhängen, der nicht mehr und nicht weniger als den historischen Horizont darstellt). Die „drei Tage“ wurden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben und schließlich sogar abgesagt, weil einige Besucher (wir betonen: einige) der Villa einem Gefährten, der an diesem Pfad teilnimmt, der Vergewaltigung bezichtigten und der Versammlung vorwarfen, ihn zu unterstützen. Es wäre für uns einfacher und bequemer gewesen, diese Geschehnis zu ignorieren und wie bei anderen Gelegenheiten weiterzumachen, als es ähnliche Versuche gab, unsere Veranstaltung wegen der Anwesenheit dieses Gefährten zu vereiteln. Stattdessen sagte uns unser Gewissen, dass wir uns äußern sollten. Da wir die Dynamik kennen, die zu dieser schwerwiegenden Anschuldigung geführt hat, und gute Gründe haben, sie für unbegründet zu halten, empfinden wir es als echte Ungerechtigkeit, dass diese Gerüchte weiter kursieren, ohne dass jemand etwas dazu sagt. Eine Ungerechtigkeit gegenüber unserem Gefährten und dann gegenüber unserer Versammlung. Als wir gemeinsam darüber nachdachten, wurde uns klar, dass es unmöglich ist, das Thema anzusprechen, ohne auf die ideologischen, ethischen und mentalen Voraussetzungen einzugehen, die diesem Vorfall zugrunde liegen. Dies hielten wir bereits für notwendig. Die Anschuldigung gegen den Gefährten ist in der Tat sehr gravierend, aber leider kein Einzelfall. Es ist zur gängigen Praxis geworden – sowohl in „antagonistischen“ Kreisen als auch in weiten Teilen der Gesellschaft –, dieser oder jener Person bzw. dieser oder jener Gruppe schändliche Schuldzuweisungen vorzuwerfen, die gelegentlich mit der sexuellen Sphäre, den Beziehungen zwischen den Geschlechtern oder sogar mit der allgemeinen „Dynamik der Macht“ in Bezug gebracht werden. Es wird nicht die Möglichket gegeben Argumente zu nennen, und es wird niemanden – sei es der in den Fokus gerückten Person oder anderen – die Möglichkeit gegeben, die Stichhaltigkeit der erhobenen Vorwürfe zu diskutieren oder gar selbst zu beurteilen, wie man damit umgehen soll, wenn sie sich als angeblich begründet erweisen. Darüber hinaus haben wir den Eindruck, dass eine bestimmte Mentalität und Ideologie – die wir aus Gründen, die im Laufe der Lektüre deutlich werden, als „identitär“ bezeichnen – seit Jahren eine Reihe von Dynamiken hervorruft, die weit über den Bereich der Sexualität und der zwischenmenschlichen Beziehungen hinausgehen, und dass wir – zumindest was uns betrifft – viel zu lange damit gewartet haben, unsere Kritik zu äußern (aber besser spät als nie). Diese Überlegungen haben zu diesem Text geführt, der sowohl ein Akt der Anprangerung als auch ein Beitrag zu einer Debatte sein soll, die weit über die spezifische Angelegenheit hinausgeht, aus der er entstanden ist. Wenn diese Art von Problemen immer mehr Welten entzweit und in unserem Fall auch zur Entsolidarisierung gegenüber Realitäten die stark stark von Repression betroffenen sind, haben die zugrunde liegenden Ideologien unserer Meinung nach noch tiefere, zutiefst schädliche Folgen. Daher ist es notwendig, all dies auch aus der Perspektive zu betrachten.
Auf die Anschuldigung selbst wollen wir hier nicht eingehen. Bestimmte Tatsachen, die, wie man sagt, „heikel“ (und auch aus strafrechtlicher Sicht potenziell sensibel) sind, müssen an geeigneter Stelle und zu geeigneter Zeit behandelt werden – zumindest, um den Bullen und den Schreiberlingen keinen Stoff für Spekulationen zu liefern. Wir sagen lediglich, dass wir uns nicht mit unserem Gefährten organisieren würden, wenn wir ihn für einen Vergewaltiger halten würden. Es wird angedeutet, aber wir sollten es explizit machen: Sowohl wir als Autoren dieses Texts als auch der direkt vorgeworfene Genosse sind bereit, uns mit jedem, der uns dazu auffordert, von Angesicht zu Angesicht zu konfrontieren. Wir haben jedoch viel zu sagen über die Art und Weise, wie solche Anschuldigungen zunehmend erhoben werden, über die Mentalität, die dahintersteht, und über die Konsequenzen, die sie nach sich ziehen.
Da wir auch der Meinung sind, dass wir zuhören müssen, wenn jemand angibt, Gewalt erlitten zu haben, kann dies kein Alibi dafür sein, die Tatsachen nicht als das zu betrachten, was sie sind (oder, bescheidener ausgedrückt, als das, was sie für uns arme Sterbliche zu sein scheinen), oder dafür, eine Person in Verruf zu bringen, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, zu antworten. Wir sind hartnäckig der Meinung, dass jeder, der schwere Anschuldigungen gegen jemanden erhebt – sei es, dass jemand einen sexuellen Übergriff begangen hat, Geld aus einer gemeinschaftlichen Kasse gestohlen hat oder ein Verräter ist –, die Verantwortung für das, was man sagt, übernehmen und mit klaren und begründeten Argumenten untermauern sollte, und zwar an einem angemessenen Ort und zu einem angemessenen Zeitpunkt. Dass auch dieses Mal der Moment der Gegenüberstellung verpasst wurde, scheint uns ganz klar das Produkt einer Mentalität zu sein, die die Bedingungen an die Stelle der Tatsachen und die Opferrolle an die Stelle von Denken setzt. Da das Problem nicht trivial ist, müssen wir es angemessen betrachten.
Durch die Vermittlung eines als intersektionaler Feminismus bezeichneten Ansatzes ist eine aus Übersee stammende Ideologie zu uns gelangt, die etwa wie folgt lautet: Die Vorstellung, wir seien freie und gleiche Menschen, die versuchen, hier und jetzt so weit wie möglich Beziehungen der Gegenseitigkeit zu erleben („Was du machen kannst, kann ich auch, und umgekehrt“), ist nichts als ein altes humanistisches Märchen. Da wir in diesem permanenten Krieg, den wir Gesellschaft nennen, in Wirklichkeit ungleich sind – durchzogen, oft ohne es zu merken, von einer Übermachtdynamik, die sich um die Linien des Geschlechts, der Hautfarbe, der körperlichen oder intellektuellen Fähigkeiten, des Alters usw. dreht –, müssen wir wach und wachsam sein (woke, amerikanischer Slangausdruck für „awake“), um all die Gewaltakte zu erfassen, die ständig unsichtbar sind, und in die menschlichen Beziehungen eingreifen, um das verlorene Gleichgewicht wiederherzustellen. Dies soll einerseits durch eine permanente Moralisierung des Verhaltens erreicht werden (beginnend mit der bekannten Besessenheit von der Benutzung der Sprache), vor allem, wenn sie von denjenigen «ausgeübt» wird, die ein gewisses «Privileg» haben (oder haben sollten), d. h. einen zusätzlichen Anteil an sozialer Macht. Andererseits sollen denjenigen, die sozial weniger haben, mehr Macht gegeben werden. (Mit diesen „Kriterien” schlugen einige Feministinnen vor einigen Jahren in den Vereinigten Staaten vor, die Wahlstimmen von Frauen und Afroamerikanern doppelt zu gewichten). Der Hintergrund und – gleichzeitig – die Folge dieser Art von Vision ist die postmoderne Philosophie. Wenn die faktische Wahrheit nicht existiert oder jedenfalls nicht gefunden werden kann, wird das einzige „Kriterium“, um sich zu orientieren und über Geschehnisse zu entscheiden, die nicht aufhören, sich zu ereignen, das emo-partisanische Festhalten in Hinblick auf derjenigen, die als «unterdrückter» erachtet sind. Die Wahrhaftigkeit der Tatsache wird durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Subjekt ersetzt.
Eine umfassende Kritik dieser Ideologie zu formulieren, würde lange dauern und ist hier nicht möglich. Eine ihrer ersten Folgen ist jedoch bereits jetzt offensichtlich: die endlose Balkanisierung der Menschheit. Wenn es keine Möglichkeit der Diskussion zwischen Gleichen gibt, weil unsere Erfahrungen und damit unsere Standpunkte ungleich sind, kann das Ergebnis nur ein Krieg aller gegen alle sein, der von mehr oder weniger prekären Allianzen geprägt ist. Daraus folgt: Da es im postmodernen Universum keine Werte mehr gibt, sondern nur noch einen Unwert – nämlich mit vermeintlicher Gewissheit etwas zu behaupten – gewinnt nicht derjenige die Konfrontation, der die überzeugendsten Argumente oder unumstößlichen Fakten vorbringt, sondern derjenige, der seinen identitären Status als „Opfer“ am besten zur Schau stellen kann und über genügend akademische Literatur (sogenannte «Studies») verfügt, um als solches anerkannt zu werden.
Diese Ideologie mag manchen als ultra-libertär erscheinen, uns scheint sie jedoch eher der Träger eines Autoritarismus zu sein, der umso gefährlicher ist, je mehr er sich hinter seiner vermeintlichen postmodernen Schwäche versteckt. Zwar ist offensichtlich, dass diese Positionen jede Möglichkeit der Reziprozität zwischen konkreten Individuen aufheben (was du tun kannst, kann ich auch tun, d. h. mein Wort ist so gut wie deins), doch bringen sie auch die Ideologie des Subjekts durch die Hintertür herein, die der Anarchismus schon lange durch die Vordertür hinausgeworfen hatte. Stirner, der voraussah, dass «die Religion der Menschheit» bald ihre Priester und Bürokraten hervorbringen würde, schrieb bereits 1844, dass er auf der Seite der Proletarier stehe, sich aber weigere, «ihre schwieligen Hände zu sakralisieren». Heraus aus der Metapher stellt Stirner fest, dass man, wenn man den Zustand der Unterdrückung anerkennt, unter dem die Proletarier leiden, es tunlichst vermeiden sollte, zu glauben, dass das Proletariat immer im Recht ist. Und das aus dem einfachen Grund, dass das Proletariat als «Subjekt»… nicht existiert (es gibt nur konkrete Individuen, die unter anderem Proletarier sind) und daher weder Recht noch Unrecht haben kann. Zeitgemäß sollten wir das Gleiche über Frauen, Schwarze, Homosexuelle, Immigranten und Transgender sagen. Wenn wir die spezifische Unterdrückung anerkennen, unter der Individuen leiden, die diesen Kategorien angehören, bekämpfen wir sie nur dort, wo wir sie konkret sehen. Dabei verzichten wir niemals auf unser autonomes Urteil und geben denjenigen, die sich dieser oder jener verfolgten Gruppe der Menschheit anrechnen, keine Blankovollmacht. Das tun wir nicht nur, weil wir unsere Freiheit genauso wertschätzen wie die eines jeden anderen und deshalb selbst dem am meisten bedrängten und demütigten Individuum der Welt nicht das geben würden, was in Wirklichkeit eine Delegation von Macht ist. Wir tun es auch, weil wir sehr wohl wissen, dass, wenn festgelegt wird, dass jemand aus welchen Grund auch immer mehr zählen muss als ein anderer, nicht „die Unterdrückten“ davon profitieren, sondern ihre selbsternannten Vertreter. Um uns verständlich zu machen, müssen wir uns mit dem unangenehmsten Teil der Angelegenheit befassen. Wenn in unseren kleinen Gemeinschaften mehr oder weniger begründete Vorwürfe sexuellen oder geschlechtsspezifischen Missbrauchs erhoben werden, wird denjenigen, die etwas zu sagen haben, dogmatisch gesagt, dass «man auf die Gefährtinnen hören muss». Nun enthält diese Aussage an sich schon eine implizite Anschuldigung, die nicht unbedingt gerechtfertigt ist (man kann durchaus auf «die Gefährtinnen» hören, aber nicht mit dem einverstanden sein, was gesagt wird). Aber vor allem: Werden wirklich alle Gefährtinnen und Frauen berücksichtigt? Unsere Erfahrung zeigt: Nein. Berücksichtigt werden nur die Gefährtinnen und Gefährten (Männer), die mit den bereits definierten Positionen, d. h. den Dogmen der neuen globalen Linken, übereinstimmen. Alle anderen Frauen werden ignoriert, wenn sie nicht gerade als Komplizinnen ihres «verinnerlichten Patriarchats» stigmatisiert werden. Bei näherer Betrachtung macht in dieser neuen Kunst des Rechthabens nicht so sehr die konkrete Zugehörigkeit zu einer diskriminierten Kategorie den Unterschied aus, sondern das Festhalten an der Ideologie, die sie heilig spricht. Es ist die neue sensibilistische und politisch korrekte Kirche, die verlangt, „angehört“ zu werden (d. h. in Wirklichkeit eine starre und schematische Ausrichtung) … Von wegen die «Gefährtinnen», die «Nicht-Weißen» oder die «Nicht-normierten Körper»!
Natürlich sind wir uns bewusst, dass sexuelle Gewalt in ihren verschiedenen Formen nicht immer dem gängigen Bild der rein körperlichen Aggression entspricht. Wir wissen, dass es auch in unseren Kreisen kleine und große Gewalt gibt. Wir wissen, dass Frauen (aber man könnte das Spektrum auf viele andere unterdrückte Gruppen ausweiten) auf große Schwierigkeiten, Widerstand und Boykott stießen und oft stoßen, wenn sie Gewalt anprangern. Gleichzeitig sind wir dafür, Missbrauch und Gewalt kollektiv anzugehen und, wenn nötig, auch Sanktionen gegen die Verantwortlichen anzuwenden. Wir halten es beispielsweise für legitim, dass eine Gemeinschaft jemanden aus einem bestimmten Raum oder sogar aus einem ganzen Gebiet verweist, wenn seine Anwesenheit für eine Person, die davon ernsthaft betroffen ist, unerwünscht ist. Ebenso ist es legitim, dass sich ein Kollektiv weigert, sich mit jemandem zu organisieren, der durch sein Verhalten das Vertrauen seiner Gefährten und Gefährtinnen beschädigt oder verloren hat (sei es für eine bestimmte Zeit, bis zu einer entscheidenden Klärung oder sogar für immer). Was wir jedoch verlangen, ist, dass alle gleichberechtigt zu Wort kommen, die Anschuldigungen auf den Prüfstand gestellt werden, soweit es die jeweilige Situation zulässt (es wäre beispielsweise abscheulich, von denjenigen, die Gewalt erlitten haben, zu verlangen, dass sie detailgetreu berichten, aber zwischen dem und einer Blankovollmacht des Vertrauens gibt es quasi immer andere Möglichkeiten) und der vorgeworfenen Person die Möglichkeit gegeben wird, sich zu verteidigen, auch indem sie die Tat leugnet, wenn sie angibt, sie nicht begangen zu haben. Wenn diese einfachen Instanzen, die von der Menschheit im Laufe der Jahrhunderte anerkannt und zu gegebener Zeit dem absoluten Staat durch Kämpfe abgerungen wurden, einen gewissen Anschein von „bürgerlichem Recht“ haben mögen, so ist zu bedenken, dass die entgegengesetzten Kriterien uns nicht mehr und nicht weniger als zum inquisitorischen Recht zurückführen, bei dem der einzige Weg zum Freispruch die Anerkennung der Schuld war (heute, der Zeit entsprechend, «der Verantwortung»). Man wird einwenden, dass solche Sachverhalte besonders schwierig zu beurteilen sind, da sie – abgesehen davon, dass sie subtile zwischenmenschliche Dynamiken infrage stellen – in der Regel in einem privaten und intimen Rahmen stattfinden, in den niemand sonst Einblick hat. Das ist sehr richtig. Allerdings findet die überwiegende Mehrheit der menschlichen Ereignisse, die Anlass zu Diskussionen geben, abseits der Blicke anderer statt oder unter einigen wenigen Augenzeugen, deren Aussagen sich möglicherweise widersprechen, da sie nur Hinweise auf den Vollzug einer Handlung erhalten haben (man denke beispielsweise an eine Situation, in der Geld verschwunden ist und nur eine bestimmte Person in der Nähe gesehen wurde: Jemand sagt, man habe sie zu einer bestimmten Zeit oder in einer bestimmten Haltung gesehen, jemand anderes in einer anderen, aber niemand hat sie beim Stehlen gesehen); schäbige Gesten, die an einem öffentlichen Ort oder vor zehn Zeugen stattfinden, die mehr oder weniger dasselbe bestätigen, sind seit Menschengedenken eine Minderheit und erregen sofort allgemeine Missbilligung. Nach welchen Kriterien entscheiden wir also in unsicheren Situationen, ob jemand etwas begangen hat oder nicht? Im Allgemeinen stützt man sich auf die Plausibilität, das heißt auf den Vergleich der Dynamik des Sachverhalts mit ähnlichen Ereignissen, die zu anderen Zeiten und in anderen Situationen erlebt, gesehen oder gehört wurden (mit einem Wort: auf vorherige Erfahrung). Das ist nur durch das Anhören und Vergleichen “mehrerer Glocken” möglich, wenn widersprüchliche Versionen vorliegen. Kann man bei der Anwendung dieses Kriteriums Fehler machen? Sicherlich, und das wird seit jeher gemacht. Wer jedoch unkritisch und um des Arguments willen nur einer Seite zuhört, verschafft einigen Leuten das (tatsächlich reale) Privileg der Lüge, da er sie von der Last befreit, glaubwürdige Behauptungen aufzustellen. Was auch immer man dagegen einwenden mag (zum Beispiel, dass die Unterschiede in der «Sozialisation» und Erfahrung zwischen Männern und Frauen es nicht erlauben, bestimmte Nuancen vollständig zu erfassen), es beseitigt nicht die unausweichliche Konsequenz (es sei denn, man argumentiert, dass Angehörige unterdrückter Kategorien keine Hintergedanken haben können und nicht flunkern können -– auch nicht sich selbst gegenüber. Was in diesem Zeitalter des fast psychedelischen Subjektivismus ein besonders hohes Risiko darstellt).
Außerdem: Wie kann es sein, dass selbst bei erwiesenen Tatsachen fast automatisch dieselbe Modalität angewandt wird (die Entfernung der Person und die verbrannte Erde rund um diejenigen, die sich weiterhin mit ihr organisieren), ohne dass die spezifische Schwere der Tat oder mögliche, vielleicht angemessene Formen der Wiedergutmachung geprüft werden?
Nein, das wird unmöglich gemacht. Identitätsaktivisten sind nämlich überhaupt nicht daran interessiert, bessere Wege des Zusammenlebens zwischen Menschen zu finden, sondern nur daran, die Welt von allem zu säubern, was ihnen nicht genehm ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass bestimmte Kreise seit einiger Zeit vom Versuch, bestimmte Personen auszulöschen, zur cancel culture von Ideen und deren wichtigsten Trägern, den Büchern, übergegangen sind. Es gibt tatsächlich Leute, die regelrechte Kampagnen gegen mehr oder weniger der „Bewegung” angehörende Verlage, Editionen und Distributionen gestartet haben (entweder, weil sie von wegen Missbrauchsvorwürfen Personen herausgegeben werden, oder weil sie Texte veröffentlichen, die als «problematisch» angesehen werden). Sie haben Schwarzlisten gegen Autoren und Autorinnen erstellt, die jeweils als transfeindlich, homophob oder sexistisch angesehen werden – aufgrund einer verzerrten Interpretation mancher Texte, der Teilnahme an von anderen „Beschuldigten” organisierten Veranstaltungen oder sogar wegen der einfachen Rezension von Texten anderer. Gleichzeitig wissen wir von einigen Gefährten die nie wegen Gewaltvorwürfen aufgefallen sind, denen jedoch aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber der LBGTQ+ Bewegung der Vorwurf der «Transphobie» gemacht wurde und die deshalb in bestimmten Kontexten nicht mehr auftreten dürfen. Während wir uns verwundert fragen, seit wann sich Anarchisten für die Verteidigung von Reformisten einsetzen, ist diese Position aufgrund ihrer politischen und intellektuellen Unehrlichkeit einfach nur erschreckend. Die LGBTQ+-Bewegung ist genau genommen eine politische Bewegung, die, obwohl sie spielt, alle homosexuellen und transgender Menschen zu vertreten, in Wirklichkeit nichts anderes als sich selbst vertritt. Zu behaupten, dass diejenigen, die den Autoritarismus einiger queerer Kreise kritisieren, homophob oder transphob sind, ist dasselbe, wie zu behaupten, dass diejenigen, die Black Lives Matter kritisieren, deshalb Rassisten sind. Das ist nichts anderes als Politik im schlimmsten Sinne des Wortes.
Es tut uns leid, aber hinter all dieser (und zunehmenden) Anklage- und Verfolgungswut, durch die immer mehr Gefährten aufgrund immer „gewagter” und fantasievoller Vorwürfe ihr Leben ruiniert sehen, können wir nicht nur einen ehrlichen Willen erkennen, sich gegen Sexismus und Schikane zu wehren oder seit lang verschwiegenen Forderungen Gehör zu verschaffen. Wir sehen darin auch eine Übernahme jener Kultur der Bestrafung, die in anderen Bereichen als Justizialismus bezeichnet wird: den Unglückseligen (ob er nun tatsächlich „schuldig” oder „unschuldig” ist) zu bestrafen, um allen anderen gegenüber ein Exempel zu statuieren. Darin sehen wir auch ein Verlangen nach Macht und Kontrolle. Vor allem aber sehen wir ein autoritäres und reaktionäres Gift, das von den US-amerikanischen Universitäten und anderen Machtzentren langsam in den Anarchismus eingedrungen ist und von innen heraus droht, ihn auszulöschen (während die Repression von außen weiterhin zuschlägt), indem es seine Prinzipien umkehrt und gleichzeitig vorgibt, sie zu radikalisieren. Wenn es ein Konzept gibt, das alle Anarchisten teilen, dann ist es, dass Autorität die Neigung der Menschen ist, sich gegenseitig zu unterdrücken, und dies durch die Autorität nicht eingeschränkt wird, sondern hingegen verschärft wird und sich strukturell verankert. Allerdings ist die Abschaffung der Autorität und damit die Freiheit kein Allheilmittel, das die unterdrückte Menschheit von allen Übeln befreien wird. Sie ist vielmehr «der offene Weg zu jeder Verbesserung» (Malatesta): ein Wendepunkt und ein Anfang – und gerade deshalb notwendig. Auch wenn sie sich libertär und ultraradikal gibt, argumentiert die postmoderne und identitäre Linke genau umgekehrt. Es gibt keinen Ausweg aus dem gegenwärtigen Elend, sondern nur einen ewigen Kampf zwischen (gefühlt) unterdrückten Subjektivitäten innerhalb eines verzweigten und allgegenwärtigen Netzwerks von Mikromächten, das nur in einer Art negativer Gegenseitigkeit etwas Ruhe finden kann: Anstelle des Prinzips „Ich tue, was ich will, in dem Maße, in dem du tun kannst, was du willst” gilt hier das Credo „Ich werde nicht tun, was ich will, solange du nicht tust, was du willst”. Kurz gesagt, eine endlose Reihe von Verboten. Das ist an einigen von der jüngeren Generation besetzten Universitäten sehr gut zu sehen. Anstelle von aufrührerischen Flugblättern finden sich dort immer häufiger Aufforderungen, dies oder jenes nicht zu tun, zusammen mit Hinweisen, wie man das Care-Team erreichen kann, wenn man sich nicht genug safe fühlt. Ein im Wesentlichen hobbesianisches Modell: Wenn Individuen, die nach Jahrhunderten des «weißen Heteropatriarchats» zu Wölfen geworden sind, in einen Krieg aller gegen alle versinken, dann muss man Kunstgriffe erfinden, um sie in Schach zu halten: die ewige Rechtfertigung der Polizei. Während Anarchisten seit jeher die Notwendigkeit betonen, die gegenwärtige Gesellschaft zu zerstören, um die Entwicklung der Individuen zu ermöglichen und sie so, wie sie sind, zu befreien, behauptet die identitäre Linke, die Gesellschaft durch eine Veränderung ihrer Sitten zu verändern, mit dem Anspruch, vom Individuum zu den sozialen Beziehungen vorzugehen und nicht umgekehrt. Reiner reaktionärer Scheiß, würdig der Kirchenväter oder des calvinistischen Genfs des 16. Jahrhunderts.
Fällt das Prinzip der Gegenseitigkeit weg, fallen auch die Grundlagen der Selbstorganisation der Klasse und der Klassenkampf selbst weg. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass Bildung, die eine tiefe Kluft zwischen den Klassen schafft, niemals zu den «Privilegien» gehört, die von den Identitären aufgezählt werden, und das, obwohl sie nicht nur in Bezug auf den Zugang zu Arbeit eine Rolle spielt. Vor Jahren erzählte uns eine Gefährtin, die viele Jahre im Gefängnis verbracht hatte, wie groß im Knast der Unterschied ausmachte, ob man „gebildet” war oder nicht, sowohl was die Kenntnis der eigenen gesetzlichen „Rechte” als auch die Fähigkeit betraf, sich gegenüber den Behörden zu behaupten. Berücksichtigt man ihre universitäre Herkunft und die Übernahme ihrer Grundsätze durch Personen, die die Universität besuchen oder besucht haben, kann dieses Fehlen unter Studies, die sich mit allen möglichen Bedingungen und Schikanen befassen, wirklich zufällig erscheinen? (Damit hoffen wir, nicht unbeabsichtigt den Anstoß zu einer neuen Verfolgungsströmung zu geben oder jemanden dazu zu bewegen, sein Studium auf franziskanische Weise aufzugeben. Kulturelle Mittel sind durchaus notwendig! Und wie andere Mittel auch sollten sie nicht abgeschafft, sondern für die Kämpfe und unserer Klasse zur Verfügung gestellt werden). Wenn bestimmte Ideologien in „Bewegungskreise“ eindringen und schließlich auch mehr oder weniger proletarische Jugendliche erreichen, werden sie in der Regel von der Mittelschicht und insbesondere von deren kognitiver Variante gefördert und übernommen. Diese will die Welt nicht verändern, sondern zivilisierter machen: Daraus ergibt sich die Ausblendung des Problems der Bildung, die oft mit einer Verachtung gegenüber dem Proletariat einhergeht (insbesondere dem weißen, das groteskerweise als «privilegiert» angesehen wird), das die Sprache und die Kategorien des linken „Kognitariats“ nicht übernehmen kann oder will, während sich Letzteres als authentisches Modell des globalen Bürgers versteht und präsentiert – wie er sein sollte. Wenn diese grundlegende Indifferenz in Bezug auf Klassenfragen uns eines zeigen sollte, dann, wie wenig den Identitär-Theoretikern die Verdammten dieser Erde wirklich am Herzen liegen. Es ist kein Wunder, dass sie nicht bemerken (bemerken sie es wirklich nicht?), wie sehr ihre Ideologie einerseits die Möglichkeiten der Ausgebeuteten, sich zu organisieren, untergräbt und andererseits den Securitarismus der Herrschenden stärkt. Wie kann man sich gemeinsam organisieren, wenn man eine schizophrene Sichtweise vertritt, nach der die eigenen Gefährten gleichzeitig als Komplizen und (wenn überhaupt-) potenzielle Feinde betrachtet werden, die durch die Erbsünde ihrer mehr oder weniger angeborenen «Privilegien» gekennzeichnet sind? Was, wenn persönliche Qualitäten – Engagement, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Mut in seinen verschiedenen Formen, die Fähigkeit zu denken und zu argumentieren sowie die Übereinstimmung mit dem, was man verkündet – als bloße Mittel der Überwältigung disqualifiziert werden? Wenn keine gemeinsame Entscheidung getroffen werden kann, ohne dass das Gespenst der «Überdeterminierung» heraufbeschworen wird? Wenn man aufhört, Gleichheit als Grenzkonzept zu betrachten (den Raum, der den Ausdruck von Unterschieden ermöglicht und in dem zwangsläufig auch einige Ungleichheiten zum Vorschein kommen), kann das Ergebnis nur Lähmung und allgemeines Elend sein. In diesem Zustand werden die Unterschiede – also das, was den Reichtum jeder Gemeinschaft ausmacht – im Namen eines abstrakten und disziplinierenden Egalitarismus vernichtet (während in orwellscher Weise diejenigen herrschen, die behaupten, «gleicher als andere» zu sein).
Sicherlich ist auch der „Klassismus“ auf seine Weise identitär, aber es handelt sich dabei um eine ganz andere Art von Identität als die verschiedenen Identitarismen von Geschlecht, „Rasse“ usw., denn er eröffnet ganz andere Möglichkeiten. Ohne zu leugnen, dass auch die Geschlechterfrage und die Hautfarbe eine Rolle bei der Gestaltung von Machtverhältnissen, Unterdrückung und Ausbeutung (sowie in der Gesamtwirtschaft der gegenwärtigen kapitalistischen Herrschaft) spielen, ist nur die Klassenzugehörigkeit in der Lage, eine universelle Befreiung zu ermöglichen. Sie schafft einen vertikalen Bruch, in dem die Befreiung von Frauen, Homosexuellen und Transsexuellen, „internen“ und „externen“ (post-)kolonialen Minderheiten usw. verwirklicht werden kann, ohne dass sich neue Macht- und Herrschaftskonfigurationen bilden. Ausgebeutet zu werden, hat nämlich mindestens zwei Aspekte, die sich vom Frausein, Schwarzsein usw. unterscheiden. Der erste Aspekt ist, dass es sich um einen rein sozialen Zustand handelt, der nicht mit physiologischen Merkmalen zusammenhängt: Solange es eine auf Ausbeutung basierende Gesellschaft gibt, wird man ausgebeutet; mit dem Ende von Rassismus und Sexismus würde man aufhören, als Männer und Frauen «sozialisiert» und als Schwarze «rassifiziert» zu werden, aber man würde nicht aufhören, Männer, Frauen und Schwarze zu sein. Der zweite Aspekt ist, dass Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung usw. sind Merkmale, die (natürlich mit Ausnahmen) die meisten Menschen in einem Befreiungsprozess nicht verlieren möchten, sondern ohne die damit verbundenen Diskriminierungen, Demütigungen und Stereotype verkörpern möchten. Das heißt, diese Merkmale sind an sich nicht unerwünscht, während niemand (abgesehen von arbeitswütigen Stakhanovisten) ausgebeutet bleiben möchte. In ihrer bloßen Negativität, deren letztendliches Ergebnis die Selbstauslöschung der ausgebeuteten Klasse ist, wenn diese die ausbeutende Klasse auslöscht, verwirklicht nur die Linie der Klasse einen nicht-abstrakten Humanismus. Das bedeutet keine Gleichsetzung von Ausgebeuteten und Ausbeutern im Namen der allgemeinen „Menschlichkeit“; es ist vielmehr ein Prozess, der eine andere Menschheit formen kann. So wird Raum für die Befreiung aller eröffnet, während das System an seiner empfindlichsten Stelle getroffen wird. An dieser Stelle kann es höchstens zurückweichen, sich aber nicht neu als Ausbeutungssystem erschaffen. Ein Kapitalismus ohne Rassismus, Sexismus und sogar ohne Geschlechter und „rassische” Unterschiede könnte zumindest abstrakt existieren, eine klassenlose Klassengesellschaft hingegen nicht. Transfeminismus, „kritische Rassentheorie“ usw. neigen dazu, den fast absoluten Antagonismus des Klassismus, der möglich ist, weil er auf rein sozialen Unterschieden basiert, auf Unterschiede anzuwenden, die in Wesen verkörpert sind (in der Sprache der Philosophie: ontologisch) und/oder die konkrete Individuen nicht unbedingt loswerden wollen (und sollten). Das Ergebnis ist fast immer ein Durcheinander, in dem ein gewisser Rückfall in den Rassismus zum Vorschein kommt. Dabei werden bestimmte Individuen (Männer und in der Folge Heterosexuelle, Weiße, „Ablierte“ usw.) für das, was sie sind, und nicht für das, was sie tun, grundlegend disqualifiziert. Dieselben Personen werden dabei einerseits als unterdrückt und potenziell Komplizen anerkannt, andererseits aber, sobald ein Konflikt auftritt, als „Kategorienfeinde“ behandelt, gegen die man die Reihen der „Eigenen“ schließen muss. Das bedeutet nicht, dass Konflikte anderer Art als Klassenkonflikte nicht existieren oder niemals offen ausgetragen werden sollten – wenn nötig, auch mit Härte (wir betonen nochmals: Wir heiligen keine schwieligen Hände). Was wir kritisieren, ist die Art und Weise, wie sie betrachtet und behandelt werden, die spezifische Merkmale haben sollte. Wenn man nicht in der Lage ist, diese Unterscheidungen zu treffen, sind die Folgen katastrophal. Bei einem Arbeitskampf in einer Fabrik oder einem Lagerhaus stehen wir immer auf der Seite der Arbeiter. Es ist uns egal, wer die „Wahrheit“ sagt (unter uns können wir zwar sagen, dass die Arbeiter Unsinn reden, aber das bleibt eine unter uns bleibende Angelegenheit, über die wir höchstens auf dieser Seite des Tors diskutieren). Können wir dasselbe sagen, wenn der Konflikt zwischen einem Gefährten (einem Ausgebeuteten, einem Freund) und einer Gefährtin (einer Ausgebeuteten, einer Freundin) entsteht? Oder, in einer Kettenreaktion, zwischen einem homosexuellen (oder transsexuellen oder schwarzen) Gefährten und einem heterosexuellen (oder cis oder weißen) Gefährten? Wenn ein Herrscher oder eine Regierung einen Fehltritt begeht – der ihnen auf die eine oder andere Weise öffentliche Missbilligung einbringt – ist es absolut sinnvoll, sie anzugreifen und daraus das zu gewinnen, was für den Fortschritt des Kampfes gewonnen werden kann, ohne zu sehr darüber zu diskutieren, wie „schwerwiegend” das, was sie begangen haben, tatsächlich ist. Kann man dasselbe sagen … usw.?
Die mechanische Anwendung von Logiken, die typisch für den Klassenkampf sind, auf Konflikte anderer Art führt letztendlich zum Tod des Befreiungskampfes. Durch die Aufsplitterung in eine Reihe von Mikrokonflikten, die zudem leicht logischen Kurzschlüssen ausgesetzt sind (wer ist unterdrückter, ein „nicht-weißer Cis-Heterosexueller” oder eine „weiße Transgender-Frau”? Auf wessen Seite würde man sich im Falle einer Auseinandersetzung stellen?), wird der vertikale Konflikt (Ausgebeutete gegen Ausbeuter, Revolutionäre gegen Staat) von einem ewigen horizontalen Konflikt verschlungen. Ein Paradigma, das übrigens (sind wir die Einzigen, die das bemerken?) einer Art linkem Gegenstück zum Krieg der Armen untereinander ähnelt, der seit Jahren von den Rechten geschürt wird. Und das, indem es Safety statt Sicherheit ausübt, trägt es zu denselben Zielen der sozialen Befriedung bei (Rechte für alle und überall, Freiheit für niemanden und nirgendwo). Der Wunsch, in seiner Isolation vor seinen Mitmenschen geschützt und abgesichert zu sein, die zunehmend als andersartig wahrgenommen werden, ersetzt die Dringlichkeit, sich gemeinsam mit allen anderen zu befreien.
Bevor wir diese Reihe von Überlegungen abschließen, möchten wir einen Punkt klarstellen, um mögliche (und wohl auch listige) Missverständnisse zu vermeiden. Die oben genannten Kritikpunkte können nicht mechanisch und in vollem Umfang auf alle identitätsorientierten Gruppen angewendet werden. Uns geht es darum, Tendenzen zu beschreiben, und in diesem Sinne sind diese Überlegungen zu verstehen. Ebenso wollen wir – im Gegensatz zu anderen – nicht allen, die sich auf unterschiedliche Weise identitären und postmodernen Ideologien und Ansätzen anschließen, die Schuld für alle Fehlentwicklungen geben, die die antagonistischen Bewegungen in den letzten Jahren durchlaufen haben (von der Befürwortung der Gesundheits- und Covid-Sicherheitswahn bis zur Unterstützung eines nicht existierenden „Widerstands” im Krieg in der Ukraine). Wenn das für diese Ideologien typische Opferbewusstsein im Ausland einen „großzügigen“ Beitrag zu diesen Fehlentwicklungen geleistet hat (siehe die internationale Versammlung in Saint-Imier im Jahr 20231), so waren ähnliche Entgleisungen oft ideologie- und gruppierungsübergreifend (man fand sie beispielsweise bei Gruppierungen verschiedener marxistischer oder libertärer Ausrichtung , die wenig oder gar nichts mit dem postmodernen Identitarismus zu tun haben). In Italien, vor allem im anarchistischen und libertären Bereich, gab es hingegen eine gesunde Abkehr in die entgegengesetzte Richtung, die verschiedene Welten durchlief, darunter auch einige queere und transfeministische Kreise. Wir freuen uns auch auf internationaler Ebene – wir denken dabei vor allem an die Vereinigten Staaten – feststellen zu können, dass die Versuche der Machthaber, Distanz zum palästinensischen Widerstand zu schaffen, indem sie das Schreckgespenst des „religiösen Obskurantismus” und der angeblichen „Vergewaltigungen durch Hamas” (eine Fake News, auf die anfangs einige hereingefallen sind und andere weiterhin hereinfallen) heraufbeschwören, gescheitert sind. Ebenso erfreulich ist, dass viele Gefährtinnen und Gefährten aus dem transfeministischen, intersektionalen usw. Umfeld sich mit Leib und Seele auf die Seite der unterdrückten Palästinenser gestellt haben (mit dem Segen der Papstin Judith Butler). Angesichts dieser einfachen Feststellungen erscheinen uns bestimmte allzu manichäische Analysen für die verwirrende, komplexe und sich ständig verändernde Realität unserer Zeit als unangemessen, sodass wir sie nicht für uns beanspruchen. Was wir stattdessen vorschlagen möchten, ist etwas Subtileres, das mit der Art und Weise zu tun hat, wie Ideen auf sozialer und individueller Ebene wirken und Menschen auch dorthin führen, wo sie eigentlich nicht hinwollen. Wenn man anfängt, auf eine bestimmte Weise zu denken, sagte Malatesta weiter, geht man nicht dorthin, wo man hin will, sondern dorthin, wohin einen das Denken führt. Ein Beispiel kann verdeutlichen, was wir meinen.
Es scheint kein bloßer Zufall zu sein, dass sich nicht nur der Markt und die Unterhaltungsindustrie, sondern sogar Institutionen und Strafverfolgungsbehörden eine vom Woke-Identitarismus inspirierte Rhetorik zu eigen gemacht haben. Diese verschafft ihnen wertvolle Vorteile in Bezug auf die soziale Kontrolle (die mit der «Verteidigung der Frauen» gerechtfertigte Militarisierung, automatische lebenslange Haftstrafen für «Femizide», aber auch immer häufigere Polizeieinsätze in Schulen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, «Mobbing», «Ableismus» usw., begleitet von Scharen von Psychologen, auf der Jagd nach Unsicherheiten, Unbehagen… und Kunden). Dass viele (Trans-)Feministinnen erwidern, die meisten Vergewaltigungen würden in Wirklichkeit zu Hause und durch bekannte Personen begangen, oder dass sie solchen Instrumentalisierungen die Präsenz und direkte Selbstverteidigung von Frauen auf der Straße oder die Anprangerung des «patriarchalen» Charakters der Polizei und sogar des «Systems» als Ganzes entgegenhalten, erscheint uns zwar durchaus lobenswert, aber angesichts einer allgegenwärtigen Propaganda, die immer mehr Menschen (insbesondere sehr junge Menschen) direkt auf ihren Smartphones erreicht, auch unzureichend; eine Propaganda, die immer mehr Gruppen (Frauen, Homosexuelle, Transsexuelle, „Farbige”, Menschen mit Behinderungen, „Neurodivergente” usw.) dazu bringt, sich ständig von denen angegriffen zu fühlen, die ein paar «Privilegien» mehr (oder ein paar Probleme weniger) haben. Vor einigen Jahren wurden in Frankreich anarchistische Gruppen angefeindet, weil sie ihre Intoleranz gegenüber allen Religionen proklamierten und praktizierten. Sie wurden als «islamfeindlich» gebrandmarkt2. Währenddessen findet in verschiedenen Gebieten der Vereinigten Staaten im Bestreben, die Interessen der „Minderheiten” zu vertreten und sie vor den Gefahren der „Privilegierten” zu schützen, de facto eine Rückkehr zur Rassentrennung statt, mit getrennten Schulen und Klassen nur für Schwarze3. Wäre es nicht sinnvoll, tiefer darüber nachzudenken, bevor es zu spät ist? Leider – und hierfür müssen wir den Großteil der von der Identitärskrankheit befallenen Realitäten ins Spiel bringen – wird systematisch das Gegenteil getan: Sobald jemand Fragen aufwirft, die für ihre Ideologien oder einen ihrer Verbündeten unangenehm sind, stürzen sich die Identitär-Aktivisten – mit stillschweigender Zustimmung ihrer „gemäßigten” Freunde – auf ihn und zeigen mit dem Finger auf diesen oder jenen unglücklichen Ausbruch, dieses oder jenes Wort oder dieses oder jenes fehlplatzierte Komma (wobei man oft schamlos und nach Bedarf vermischt, was man in Ruhe an seinem Schreibtisch schreibt, mit dem, was einem in der Hitze einer Diskussion oder bei einem Glas Wein herausrutscht). So vermeiden sie es, sich mit den Fragen selbst auseinanderzusetzen. Was hier tatsächlich zum Einsatz kommt, ist eine Reihe von Mechanismen, die sowohl das Diskutieren als auch das Denken verhindern (auf Dauer stirbt das Denken ohne die Möglichkeit der Gegenüberstellung).
Das ist die kirchliche Atmosphäre, die wir schon viel zu lange atmen müssen und die uns bis über beide Ohren reicht. Das ist es, was wir anprangern, unabhängig vom Anlass, der zu dieser Anprangerung geführt hat. Das Problem ist für uns nicht so sehr, dass diese Reihe von Mechanismen, die zur Ideologie geworden sind, in unseren Kreisen zu einer Vielzahl von Streitigkeiten geführt hat (wenn auch nicht immer nutzlos oder unbegründet, so doch fast immer schlecht gehandhabt), sondern dass sie dem kritischen Denken tödliche Schläge versetzt und damit einen regelrechten Prozess des ethischen, kognitiven und spirituellen Verfalls ausgelöst hat. Was für ein moralisches und intellektuelles Umfeld kann entstehen, wenn man aufhört, über Fakten nachzudenken, und stattdessen einem ungezügelten Subjektivismus freien Lauf lässt, der gleichzeitig in starren Kategorien gefangen ist und zu wahnwitzigen Dogmen führt (wahnsinnig wie alle Dogmen, deren Wesen darin besteht, dass man an sie glauben muss, obwohl sie unverständlich bleiben), wie «Gewalt ist das, was eine Person als solche empfindet» (und «Gewalt» kann man nach Belieben durch «Überdeterminierung», «Macht» usw. ersetzen)? Hegel sagte, die Innerlichkeit ohne Äußerlichkeit sei leer. Ohne die begegnende Auseinandersetzung mit der Realität als Moment ihrer Überprüfung, also ohne deren Existenz und die Möglichkeit ihrer Erforschung, wird die Subjektivität zu nichts anderem als einem fortwährenden Wirbelwind aus Empfindungen, Emotionen, Wahrnehmungen (und Paranoien). Sind in dieser historischen Phase die Individuen im Allgemeinen durch den grassierenden Ultra-Subjektivismus (und die informatische Entmaterialisierung der Realität) zunehmend zu Individuen ohne Welt gemacht worden und wirkt jede ideologische Einrichtung wie ein Filter, der bestimmt, welche Menschentypen sich bestimmten Kreisen annähern oder von ihnen entfernen, dann ist es unvermeidlich, dass sich dort, wo die Woke-Paranoia herrscht, gerade die inkonsequentesten, unüberlegtesten und tendenziell nachtragendsten Menschentypen den „Bewegungen” annähern und sich ihnen immer mehr annähern werden. Diejenigen, die wenig zum Nachdenken neigen, aber sehr zum Jammern; diejenigen, die keine ernsthaften Anstrengungen unternehmen wollen, um die (wahre) Macht zu identifizieren und zu bekämpfen, und die den billigen Kampf gegen die überall verbreitete „Macht” sehr lieben…vor allem aber in ihrer Nähe. Diejenigen, die eine Gruppe suchen, die sich um ihre schlechte Laune kümmert, anstatt jede Gemeinschaft herauszufordern und daher jene Gemeinschaften zu bereichern, die frei gewählt werden, mit der Originalität ihrer eigenen Spannungen und Ideen. Diejenigen, die keine unwiederholbaren Individuen sein wollen – und daher unmöglich auf irgendeine Kategorie zurückführbar sind –, sondern eben Subjekte.
In diesem Wettlauf um die Vernichtung der Realität und der denkenden Individualität, in dem der Autoritarismus eine willkommene Heimat findet und in dem Relikte der Reaktion in neuer Form wiederaufleben, machen uns Ereignisse wie das in Mailand und andere, die unserer Versammlung in ihrem anderthalbjährigen Bestehen widerfahren sind (die jedoch glücklicherweise glimpflicher ausgegangen sind), traurig. Sie überraschen uns jedoch nicht. Autorität und Autoritarismus erniedrigen Menschen stets und verschlechtern immer die Beziehungen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in dieser Mitternacht des Jahrhunderts alle Türen für kleine Torquemadas und prinzipienlose Opportunisten weit offenstehen, während sie denen verschlossen sind, die darauf bestehen, klare Worte über eine Gegenwart zu sagen, die viel tragischer als ernst ist.
Inmitten all dieser reaktionären Scheiße machen wir weiter, mit unseren Prinzipien fest in der Hand.
Italienische Halbinsel, Frühjahr 2025
Cinque piccoli indiani fuori dalla riserva [Fünf kleine Indianer außerhalb des Reservats]
1 Einen Überblick (auf italienisch) über die Ereignisse dieser Veranstaltung findet man im Text „Grosso guaio a St Imier” (Big Trouble in St. Imier) auf dem Blog der Radiosendung „La nave dei folli” unter folgendem Link: https://lanavedeifolli.noblogs.org/files/2023/09/Grosso-a-guaio-a-St-Imier.pdf
2 Siehe beispielsweise https://danslabrume.noblogs.org/post/2023/07/24/anti-anti-racialisme/
3 Siehe Yascha Mounk, La trappola identitaria [Die Identitätsfalle], Feltrinelli, Mailand 2024